Die empathische Maria

Auszug aus der Dissertation von Marion Romberg „Die Welt im Dienst der Konfessionen. Erdteilallegorien in Dorfkirchen auf dem Gebiet des Fürstbistums Augsburg im 18. Jahrhundert“ (445-449):

In der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt zu Oberostendorf malte Johann Georg Wolcker 1747 im Langhaus die vier Erdteile; sie beten die unter einem Baldachin sitzende schmerzhafte Muttergottes an, die an die rechts und links von ihr knienden Heiligen Dominikus und Katharina von Siena Rosenkränze verteilt. Außerhalb des Fürstbistums findet sich die Kombination der Erdteilallegorien mit der Schmerzensmutter nur noch einmal, in der Friedhofskapelle von Bayrischzell.

Der Typus der sogenannten Mater Dolorosa ist durch die Visualisierung ihres Leides, ihres Mutterschmerzes und der Compassio mit ihrem gekreuzigten Sohn charakterisiert.[1] Im Mittelalter[2] ist sie in der Regel neben oder unter dem Kreuz dargestellt, ihre Brust analog zur Prophezeiung Simons im Moment der Darbringung Christi im Tempel („Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen“, Lk 2,35) von einem oder mehreren Schwertern durchbohrt. Mit der Zeit verselbstständigt sich das Thema zu einem eigenständigen, vom Kreuz abgelösten Kultbild, in dem Maria stehend oder auch sitzend mit ihrem toten Sohn auf ihrem Schoß (Pieta) dargestellt wird. Wie in Bayrischzell (Fons Gratiae) und Oberostendorf (Rosenkranzspende) wird das emphatische Marienbild auch zum Teil, jedoch vor allem in der Wand- und Deckenmalerei mit anderen mariologischen Themen kombiniert.

In Oberostendorf sind es sieben Messer, deren Spitzen hinter ihrem Rücken verborgen sind und die einer Gloriole gleich den Kopf der Muttergottes umgeben. Die Siebenzahl verweist auf sieben zentrale Ereignisse aus ihrem Leben wie auch aus dem ihres Sohnes, die den Aufstieg Jesu zum Messias bis hin zu seinem Opfer und der zeitgleichen Entfremdung zwischen Mutter und Sohn belegen. Abhängig vom Umfang des gesamten Bildprogramms können diese auch in weiteren Deckenspiegeln visualisiert werden, hierin vergleichbar mit Albrecht Dürers Frühwerk Mater Dolorosa, bei dem sieben einzelne Tafeln (heute in der Dresdner Gemäldegalerie) das Hauptbild der im Schmerz gefangenen Muttergottes (heute in der Alten Pinakothek in München) umfangen; so in Oberostendorf und im Chor der Wallfahrtskirche Mariä Schmerzen in Waldkirch, jedoch nicht in Bayrischzell. Allerdings ist dem Ausführungsmedium und Anbringungsort entsprechend der Zusammenhang zwischen dem Anlass ihrer Verzweiflung und ihres Schmerzes weitaus distanzierter, da die Ereignisse meist in kleineren Spiegeln beigefügt sind, die das Hauptbild umgeben und Teil eines größeren mariologischen Programms sind. Somit handelt es sich infolge der dominierenden Positionierung des Themas sowie der innerbildlichen Konzentration auf die durchbohrte Mutterbrust im Barock um eine umfassendere und abstraktere Darstellung ihres Schmerzes. Losgelöst vom konkreten Passionsereignis wird der Schmerz zum eigentlichen Gegenstand der Meditation. Nicht zuletzt wird auch ihre Empathie für die Nöte, Sorgen und Ängste wie auch die Schmerzen der Gläubigen bedeutsam. In der Wallfahrtskirche in Waldkirch, 1745 von Anton Enderle ausgemalt, empfangen Kranke, Leidende und zum Teil konkret zu benennende historische Personen, wie den Pfarrer und Auftraggeber der Ausstattung Rimmele, die von einem Engel ausgestellten Gnadenbriefe zu den einzelnen Bitten nach Sanitatem (Gesundheit), Pane (Brot), Libertatem (Freiheit) oder Gressum (Gehen) etc.

In allen drei genannten Orten Oberostendorf, Bayrischzell und Waldkirch steht das Bildprogramm mit einer Gnadenstatue der Mater Dolorosa in Zusammenhang. Während es sich in Bayrischzell um eine sehr junge Wallfahrt (seit circa 1785[3]) in einer kleinen, bescheiden ausgestatteten[4] Gnaden- und Seelenkapelle handelt, die neben der Pfarrkirche St. Margareth extra für die seit 1733 als wundertätig geltende Gnadenstatue[5] erbaut worden war und auch als Gedenkstätte für die Verstorbenen fungierte, befinden sich an den anderen beiden Standorten stattliche, weiträumige Saalbauten. Die Kombination der sieben Schmerzen Mariä mit dem Fons-Gratiae-Bildmotiv korrespondiert in Bayrischzell mit der Nutzung der Kapelle als Seelenkapelle. Der Schmerz über den Verlust eines Geliebten, den die Hinterbliebenen verspürten, spiegelt sich im Leid der Gottesmutter wider, und in ihrer Rolle als Fürbitterin und Beschützerin gibt sie Hoffnung auf die Erlösung des Toten.

In den beiden anderen Kirchen liegt ein umfassenderes mariologisches Bildprogramm vor. In Oberostendorf verteilt es sich über 26 und in Waldkirch über 18 kleine und größere Spiegel, wobei das Waldkircher Langhausfresko, das sich über die gesamte Breite und Länge des Langhauses erstreckt, allein fünf Narrationen umfasst.

In Oberostendorf nimmt das Erdteilfresko das Zentrum der Langhausdecke ein, flankiert von zwei Deckenspiegeln, die jeweils auf einen der sieben Schmerzen Bezug nimmt. Die Folge der sieben Schmerzen beginnt jedoch im Chor, wo sich zentral der erste Schmerz Darbringung Christi im Tempel (Lk 2,34–35) findet; umgeben ist das Mittelbild von sechs kleineren Spiegeln, von denen vier weitere Schmerzen darstellen: Die Flucht nach Ägypten (Mt 2,13–15), Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Lk 2,43–45), Die Kreuztragung und Die Kreuzigung (Joh 19,17–39). Hinter dem Chorbogen im Langhaus zeigt das erste der drei großen Mittelbilder die Beweinung Christi (Mt 27,57–59). Hierauf folgen die Verherrlichung der sieben Schmerzen Mariä durch die vier Erdteile und eine lateinische Inschriftenkartusche:

Secundum multitudinem dolorum meorum in corde meo consolationes tuae laetificaverunt animam meam. Psalm 93. Vs. 19 

(Nach der Menge meiner Schmerzen, die ich in meinem Herzen halte, haben Deine Tröstungen meinen Seel erfreuet.)[6]

Den Abschluss bildet der siebte Schmerz, Die Grablegung Christi (Joh 19,40–42). In allen sieben Bildern durchbohrt ein Schwert das Herz Mariens. In Waldkirch liegt eine analoge Umsetzung vor, wobei sich die Ikonografie auf den Chorraum beschränkt. Das Langhaus ist der Verherrlichung der Himmelskönigin durch die vier Erdteile vorbehalten. Sechs der sieben Schmerzen sind in kleinere Spiegel um das Chorfresko mit der Verherrlichung der sieben Schmerzen Mariä angeordnet. Der siebte Schmerz, Die Beweinung Christi, ist im Hauptbild in der Gestalt Mariens integriert, die ihren toten Sohn auf dem Schoß umfängt und deren Herz mit einem Schwert durchbohrt ist. Während in Waldkirch noch zur Zeit der Ausmalung in den 1740er-Jahren von einer blühenden überregionalen Wallfahrt zur Mater Dolorosa gesprochen werden kann,[7] liegen in Oberostendorf keine Belege für eine Wallfahrt vor. Der Autor des Kirchenführers Hans Pörnbacher vermutet, dass die nach 1500 entstandene Wallfahrt „vielmehr nach und nach von der [1626 gegründeten] Rosenkranzbruderschaft ‚abgelöst‘ worden zu sein“[8] scheint. Hinweise auf eine existierende Rosenkranzbruderschaft zur Zeit der Ausmalung sind im programmbestimmenden Fresko Verherrlichung der sieben Schmerzen Mariä enthalten: Hier knien zwischen Maria und den Erdteilen die beiden Rosenkranzheiligen Dominikus und Katharina von Siena. Die von der Gottesmutter empfangenen Rosenkränze reichen die Heiligen an die vier Vertreter der Erdteile weiter. So tritt uns in Oberostendorf Maria nicht nur als die Schmerzensmutter, sondern auch als Rosenkranzspenderin entgegen; die Sterne über ihrem Kopf wie der Putto rechts zu ihren Füßen mit einer Lilie verweisen auf ihre unbefleckte Empfängnis.

 

[1]       Zur textlichen Verbreitung siehe Kraß Stabat mater dolorosa 1998.

[2]       Siehe hierzu ausführlich AK Salzburg Stabat Mater 1970; Schuler Sword of Compassion 1989; dies. Sword of Sorrow 1992, 5–28.

[3]       Die Kapelle ersetzte einen Karner an gleicher Stelle und wurde neu errichtet, um das seit 1733 als wundertätig geltende Gnadenbild Mater Dolorosa aufzunehmen; vgl. CdbM 2/1981, 460.

[4]       Bis auf das Fresko im Chor mit der Verherrlichung Mariens als Schmerzensmutter und Fürbitterin durch die vier Erdteile und das Langhausfresko, in dem Maria im Typus der Schutzmantelmadonna dem von einem stürmischen Wind gebeutelten Schiff mit der Pfarrer und der Gemeinde von Bayrischzell zu Hilfe eilt, ist die Kapelle frei von Wand- und Deckenmalereien. Signiert ist das Fresko von dem lokalen Künstler Johann Baptist Böheim und datiert auf 1785.

[5]       Sie befindet sich heute noch im Altar des Chores.

[6]       Biblia sacra Vulgatae Editionis 1749, 695.

[7]       Der Ursprung der Marienwallfahrt von Waldkirch ist unbekannt. Bis zur Wiederbelebung der Wallfahrt durch den Ortsgeistlichen und Initiator des Neubaus der Kirche, Johann Ulrich Rimmele, belegen folgende Quellen deren ins Mittelalter zurückreichenden Wurzeln (Rimmele datierte die Wallfahrt im Mirakelbuch 1749 auf „500 Jahre“): 1) Die Ortschronik von Waldkirch führt regelmäßige fromme Stiftungen für das 13. und 14. Jahrhundert an; 2) die Datierung des Gnadenbildes der Pieta auf 1510; 3) die Heiligenrechnungen aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts listen „relative hohe Opfergaben und Naturalspenden“ auf.

Um die Jahrhundertwende erlebte die Wallfahrt nach Waldkirch im Kontext eines allgemeinen Wallfahrtsbooms eine erneute Blüte, die – wie so oft der Fall – einerseits einen Neubau der zu klein geratenen Kirche notwendig machte, aber gleichzeitig diesen finanziell erst ermöglichte. Die wichtigsten Hinweise auf die Strahlkraft Waldkirchs liefert das bereits erwähnte Mirakelbuch von Pfarrer Rimmele. Die Pilger kamen hauptsächlich aus dem näheren Umfeld zwischen den Flüssen Zusam, Mindel und Donau; vgl. Dorn Wallfahrten 1961, 167f.; Mayer Waldkirch [1995], 26; Dehio Schwaben 2008, 1067.

[8]       KF Oberostendorf 1995, 4.

Komplettes Verzeichnis der in der Dissertation verwendeten Literatur findet sich in der Datenbank unter Bibliografie > Dissertation.

1 - 3 von 3
Titel Art Zeitliche Einordnung
Bayrischzell (Miesbach), Zu den sieben Schmerzen Mariens Erdteilallegorien 1785-1785
Oberostendorf (Ostallgäu), Mariä Himmelfahrt Erdteilallegorien 1747-1747
Waldkirch (Günzburg), Mariä Schmerzen Erdteilallegorien 1745-1745

 

Forschungsplattform Erdteilallegorien im Barockzeitalter / Research Database Continent Allegories in the Baroque Age

Nirgendwo hat der Barock eine solche Dichte an Allegorien der vier Erdteile – Europa, Asien, Afrika und Amerika – hervorgebracht wie im Süden des Heiligen Römischen Reiches. In ihnen manifestieren sich die Vorstellungen des Barock von der Gestalt der Welt, ihrer politischen, sozialen und spirituellen Ordnung, vom Fremden wie vom Bekannten. Diese einzigartige Sammlung dokumentiert Darstellungen der vier Erdteile in Fresken, Stuck, Gemälden oder Skulpturen in ihren ursprünglichen Ausstattungskontexten. Baugeschichten sind ebenso erfasst wie Künstler und Auftraggeber.

Publikationen zum Projekt:

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Allegories of the four continents – Europe, Asia, Africa, and America – were an extremely popular iconographic motive during the baroque era. It was most prevalent in the Southern Parts of the Holy Roman Empire. These allegories express/manifest/carry the imagination/conception/vision of the baroque of the shape of the world, its political, social, and spiritual order as well as of foreign and familiar things. This unique collection documents depictions of four continents in frescoes, stucco, paintings or sculptures in their place of origin. The historical contextualization contains the building history as well as artists and principals.

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