10./11. Jahrhundert[1] Schenkung eines Landstrichs beim „rothen See“ von Berengar von Arnach[2] an den seligen Ratpero; anschließender Bau einer Kapelle[3] und Beginn der Wallfahrt nach dem Tod des Einsiedler
zw. 1111 und 1116 Verkauf der Kapelle durch den Bischof von Konstanz Ulrich I. (reg. 1111–1127) an Abt Theoderich von Petershausen (reg. 1086–1116); Status einer Benediktinerpropstei[4]
zw. 1127 und 1164 Ablöse der Weltpriester durch Mönche
1353 Erwähnung im Liber taxationis als „nihil habet et nihil dat“
1449 Neubau des Chores
1580 Verkauf der Propstei an Hans Ulrich von Schellenberg (1518–1606); Rötsee nun Teil der Schellenbergischen Herrschaft und Filialkirche der Pfarrei Kißlegg[5]; Erweiterung des Langhauses zu einer Basilika
1708 Wechsel der Patronatsherrschaft an die Linie Waldburg-Wolfegg in Folge des Todes des letzten männlichen Schellenbergs
1710 Gründung der Bruderschaft „Leibeigenschaft Mariae um ein seliges Ende“
1712 Bau des Glockenturmes
1718/19 Teilbarocksierung der Ausstattung [Hochaltar]
1748 Barockisierung [Bildhauer: Johann Wilhelm Hegenauer (1719–~1754); Maler: Anton Widmann (aktiv 1725–1765)]
1953 Wiederentdeckung des Grabes Ratpero und Umbettung in einen Sarkophag unter Bischof von Rottenburg Carl Joseph Leiprecht (1903–1981)
[1] Das genaue Jahr der Schenkung ist unklar. Ein Bettelbrief von 1449, überliefert im Staatsarchiv Luzern, gibt die Stiftung des „Hailigtum in Rotsee […] vor V ½ hundert jaren“ bereits Ende des 9. Jahrhunderts an (vgl. Liebenau 1895, 7–8). Die Hauptquelle zur Frühgeschichte von Rötsee, die Chronik des Benediktinerklosters Peterhausen Casus monasteri Petrishusensis (verfasst zwischen 1156 und 1164) nennt das Jahr 950. Jedoch berichtet diese weiter, dass Ratpero 963 Schüler des Abtes von Kempten und Bischofs von Augsburg Ulrich (reg. 923–973) gewesen sei, dann zu Beginn des 11. Jahrhunderts von Bischof Warmann von Konstanz (reg. 1026–1034) vertrieben und von seinem Nachfolger Bischof Eberhard I. (reg. 1034–1046) wieder zurückgeholt worden sei. Dort soll er am 26. Juli eines unbekannten Jahres verstorben sein. Bischof Eberhard I. soll, laut einer Zeittafel, angebracht beim Wallfahrtsort, 1035 die Erbschaft Ratpero angetreten sein. Über die genaue Ankunft Ratperos in Rötsee ist nichts überliefert. Josef Gindele diskutiert in seiner Zulassungsarbeit überzeugend verschiedene Varianten, wobei er die gemeinsame Ankunft mit Bischof Ulrich negiert und folgert, dass „die damit verbundene Steigerung des Ansehens Ratperos“ der Grund für diese seines Erachtens unwahrscheinliche Verbindung sei (Gindele 1963, 13). Folglich hält er eine Ankunft Ratperos in den 980er/990er-Jahren für schlüssig. Die Kongruenz der Daten 963 (Ausbildung), 980/90er (Ankunft), 1020er (Vertreibung) und 1035 (Erbschaft) lässt eine Schenkung um die Jahrhundertwende wahrscheinlicher werden. Vgl. die Literatur zur Orts- und Kirchengeschichte in Anm. 2.
[2] Vgl. Alberti 1975, 24.
[3] Im Nibelgauer Volksmund ist es üblich über Menschen von besonders hohen Alter Folgendes zu sagen: „derselbe wird so alt wie die Kirche zu Rötsee“. Vgl. Baumann 1881, 413; Schahl/Matthey 1954, 276.
[4] Pröpste lassen sich erst im 15. Jahrhundert nachweisen. Vgl. Maier 2003, 401.
[5] In einer Beschreibung des Paumgartischen Anteils (Trauchburg) der Herrschaft Kißlegg vom 23. September 1791 wird die „Filial oder Wallfahrtskirche zu Rotsee“ wie auch die „Pfarrey Kißlegg“ dem Schellenbergischen Anteil (Wolfegg) zugeschrieben. Vermutlich wurde sie nach dem Patronatswechsel 1580 der Pfarrei Kißlegg angegliedert. Vgl. Baumann 1893.
In Rötsee existieren zwei Wallfahrten: die ältere zum Seligen Ratpero und die jüngeren Datums zum Gnadenbild der Muttergottes. Die Ursprünge beider Wallfahrten liegen im Dunkeln. Die Verehrung Ratperos setzte wohl kurz nach dessen Tod im 11. Jahrhundert ein. Anlass waren wundersame Heilungen von Fuß- und Augenleiden.[1] Über die Ausmaße der Wallfahrt liegen keine weiteren Fakten vor. Ratpero, der dem thüringischen Adelsgeschlecht der Grafen von Rappenberg entstammen soll[2], hat sich in Rötsee gegen Ende des 10. Jahrhunderts niedergelassen.[3] Mit weltlichem und kirchlichem Segen baute er auf dem Landstrich beim „rothen See“[4] eine kleine Kirche, in der er auch bestattet wurde. Zu seinen Lebzeiten soll auch erst der See entstanden sein; dieser soll auf wundersame Weise zum Schutz vor immer wiederkehrenden Raubüberfällen angestiegen sein.[5] Die wichtigsten Impulse für Rötsee setzten nicht die Wallfahrten, sondern die Besitzerwechsel. Ratpero stellte seine Kirche unter den Schutz der Bischöfe von Konstanz, die die Kirche der seligen Jungfrau Maria weihten. Nach dem Übergang der Kirche vom Bistum Konstanz zur Benediktinerabtei Petershausen wurde der Kirche zunächst mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Jedoch war die mittelalterliche Wallfahrt trotz Bemühungen alles andere als blühend, da 1353 im Liber taxationis[6] der Diözese Konstanz festgehalten wurde: „Ecclesia Röcz, nihil habet, nihil dat.“ 1449 erfolgte, eventuell aus Baufälligkeit, der Neubau des Chores. Kurze Zeit später entstand auch das 1,44 Meter hohe Steinrelief mit dem Bildnis Ratperos.[7]
Erst mit dem weiteren Verkauf der Kirche an die Grafen von Schellenberg 1580[8] wurde das Kirchengebäude erweitert. Der eigentliche Grund ist ungewiss. Sicherlich lag er nicht in der Wallfahrt zum seligen Ratpero, da diese zu diesem Zeitpunkt entweder bereits zum Stillstand gekommen oder am Auslaufen war. 1708 erfolgte erneut ein Besitzerwechsel durch den Tod des letzten schellenbergischen Erben. Die Kirche ging durch Heirat und Erbe in den Besitz der Reichsgrafen von Waldburg zu Wolfegg in Wolfegg über.[9] Der Patronatsherr Ferdinand Ludwig (1681–1735) setzte sich bei Papst Klemens XI. (reg. 1700–1721) dafür ein, dass die Bruderschaft „Leibeigenschaft Mariä um ein seliges Ende“ mit einer päpstlichen Bulle am 16. Mai 1710 bestätigt wurde.[10]
Insbesondere das Wirken der Bruderschaft im Rahmen der neun „Goldenen Sambstäg“ gab der Wallfahrt zum „Wunderthätigen Gnaden-Bild“ Maria, Königin der Engel neuen Aufwind im 18. Jahrhundert.[11] 1751 zeichnete Papst Benedikt XIV. (reg. 1740–1758) die Rötseer Wallfahrt durch die Gewährung von Ablässen für die Goldenen Samstage im Besonderen aus. Die Anfänge der Marienwallfahrt können mit der Entstehung des Gnadenbilds, das der Werkstatt des Ulmer Meisters Hans Multscher (~1400–1467) zugeschrieben wird,[12] einhergehen, müssen aber nicht.[13] Fest steht, dass das Aufblühen der Marienwallfahrt zu Lasten der Wallfahrt zum seligen Ratpero ging. Dies führte letztlich dazu, dass Anfang des 19. Jahrhunderts[14] das Grabmal des Seligen an die nördliche Seitenwand verlegt wurde. Ursprünglich befand sich das Hochgrab im westlichen Teil des Langhauses genau in der Schiffsachse.
Aus dem Sommer 1872 haben sich zwei Gedichte, von der Hand des Rötseers Pfarrer Adolph anlässlich seines goldenen Priesterjubiläums erhalten:
Maria Es stehet hier im Choraltar Klopft hier bei ihr ein Sünder an, Vor diesem Bild hat Mancher schon: Drum malt in dieser Einsamkeit –– |
Der Selige Ratperonius Vom selgen Ratperonius Manch Kranker hat sich auch erbaut. So spendet Ratperonius
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[1] vgl. Reiser 1895, 377.
[2] vgl. Memminger 1841, 253. Die Gleichsetzung des seligen Ratpero mit dem Weltpriester Ratpo, dem Gründer Kißleggs, ist irreführend. Baumann 1881, 412; Kasper , 89; Ernst 1988, 61.
[3] Siehe Anm. 4 („Das genau Jahr der Schenkung ist unklar“.)
[4] Dieser wurde 1834 abgelassen. Vgl. Grimm 1864, 84; Müller 1966, 29.
[5] vgl. Grimm 1864, 83–86; Baumann 1881, 411; Reiser 1895, 376f.; Müller 1974, 27; ders. 1975, 609; Spahr 1978, 99.
[6] Es handelt sich hierbei um das Verzeichnis der Pfarrer, die auf dem Gebiet des Allgäus zum Konstanzer Bistum gehörten.
[7] vgl. Wahr 1938, 18; Schahl/Matthey 1954, 281.
[8] In der Literatur findet sich auch vereinzelt die Jahreszahl 1508 (vgl. KD Wangen 1954, 276; Kgr. Württemberg 1907, 635). Es handelt sich hierbei wohl um einen Zahlendreher. Richtig ist 1580. Vgl. Quarthal 1975: 1580; Spahr 1978, 100: 1580; Maier 2012.
[9] 1708 erlosch das Geschlecht der Schellenbergs mit dem Tod von Franz Christoph von Schellenberg (1651–1708) in Lindau. Seine einzige Tochter Maria Anna (1681–1754) hatte durch Heirat mit Ferdinand Ludwig von Waldburg-Wolfegg (1678–1735) am 14. Februar 1700 den Schellenberg’schen Anteil in die Familie gebracht. So kam auch der zweite Teil der Herrschaft Kißlegg in die Familie der Waldburg. Der sogenannte Paumgartische Anteil der Herrschaft gehörte bereits 1625 seit der Heirat von Susanna Khuen von Belasi (1610–1669) mit Reichserbtruchsess Friedrich von Waldburg-Trauchburg (1592–1636) der Trauchburger Linie. Nach dem Tod von Susanna erbten ihre Söhne Christoph (†1682) und Johann Ernst I. (†1687) die Herrschaft. Vgl. Baumann 1893.
[10] Vgl. Gindele 1963, 23–28.
[11] Vgl. Schahl/Matthey 1954, 276. Im Pfarrarchiv hat sich ein „Mitgliederausweis“ der Bruderschaft erhalten. Der Kupferstich, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts gefertigt wurde, ist bei Adelmann/Ingenhoff 1973, 6 veröffentlicht. Außerdem haben sich neun Votivbilder von 1701 bis 1881 erhalten; abgebildet bei Gindele 1963, 25–28 und zum Teil Dettmer 1990, 184–186; Zimmermann/Priesching 2003, 401.
[12] Die Blechkrone des Gnadenbilds wurde im Zuge der Barockisierung 1748 von einem Gürtler aus Ravensburg angefertigt. Auch wurde es vom Bildschnitzer Johann Wilhelm Hegenauer (1719–~1754), der zeitgleich im Wolfegger Rittersaal gearbeitet (vgl. Schwager 1963, 16) maßgeblich dem zeitgenössischen Geschmack angepasst. Vgl. Schahl/Matthey 1954, 279f. Über die Restaurierung des Gnadenbildes berichten ausführlich Adelmann/Ingenhoff 1973, 6–11.
[13] Während Alfons Kasper als Einziger unbelegt die erste Wallfahrt in das Jahr des Chorneubaus 1449 legt („…die Wallfahrt, die 1449 bezeugt.“ Kaspar 1963, 83), nennt Hermann Dettmer das 16. Jahrhundert (vgl. Dettmer 1990, 183).
[14] vgl. Waldburg-Wolfegg 1953, 50. Baumann nennt 1815 als Verlegungsjahr. Vgl. Baumann 1881, 411.
Zuletzt aktualisiert am: 24.02.2016