Auszug aus der Dissertation von Marion Romberg „Die Welt im Dienst der Konfessionen. Erdteilallegorien in Dorfkirchen auf dem Gebiet des Fürstbistums Augsburg im 18. Jahrhundert“ (256–258):
In der Sammlung des Heimatmuseums von Weißenhorn befindet sich ein solches Skizzenbuch mit 62 Skizzen zu Figuren, Deckengemälden, Altarbildern sowie Hand-, Kopf-, Porträt- und vereinzelten Tierstudien von der Hand Franz Martin Kuens.[1] Die enthaltenen Skizzen erlauben eine Bestimmung der Verwendungsdauer des Skizzenbuches zwischen 1744 und 1752. Neben Skizzen aus seiner italienischen Zeit finden sich überwiegend Nachzeichnungen von Werken süddeutscher Künstler wie beispielsweise Cosmas Damian Asam in Weingarten (dat. 1718), Franz Xaver Forchner in Ochsenhausen
(dat. 1748) und Franz Joseph Spiegler in Zwiefalten (dat. 1752)[2]. Von Kuens reichem Schatz an Vorlagenmaterial und seiner unmittelbaren Kenntnis italienischer Kompositionen, Malweisen und Gestaltungsprinzipien profitierten nicht nur seine Auftraggeber – indem, wie sein Bruder Franz Joseph CRSA[3] dem Oberamtmann der Fugger in Babenhausen, Joseph Anton von Zwerger, versicherte, Kuen, der sich „in Venedig Und Rom in der Mahler Kunst also perfectionieret hatte“, „ohne Zweyfel alle Satisfaction geben würde“[4] –, sondern vor allem seine Schüler.
Kuen, der seine erste Ausbildung bei seinem Vater Johann Jacob Kuen in Weißenhorn erhalten hatte, setzte seine Studien zunächst in Augsburg fort. Von circa 1736 bis 1741 hatte er dort die Gelegenheit, Kontakte zu anderen Künstlern zu knüpfen, sein erworbenes Wissen zu erweitern und theoretisch zu vertiefen.[5] Er kehrte 1741 in die väterliche Werkstatt nach Weißenhorn zurück, um nur drei Jahre später (in der Zwischenzeit hatte er seine ersten prestigeträchtigen Werke in der Augustiner-Chorherrenkirche zu den Wengen in Ulm und im Bibliothekssaal des Benediktinerklosters Wiblingen ausgeführt)[6] nach Italien aufzubrechen. Dort führte ihn sein Weg nach Rom und nach Venedig. Die Lagunenstadt übte nördlich der Alpen durch Werke von Künstlern wie Giovanni Antonio Pellegrini, Sebastiano Ricci, Jacopo Amigoni in Wien, Prag, Paris und München „eine Rom ebenbürtige Anziehungskraft für ausländische Besucher, Sammler, Mäzene und Künstler“[7] aus. Zur Zeit von Kuens Ankunft in Venedig „herrschte“ Giambattista Tiepolo als „genialer Kolorist und Gestalter unvergleichlich großzügiger und weiträumiger Deckengemälde“[8] über den Norden Italiens und ab 1737 verstärkt über die Lagunenstadt.
Nicht bei Giovanni Battista Pittoni oder Giovanni Battista Piazzetta, die beide große Ateliers unterhielten und viele Schüler akzeptierten, kam Kuen unter, sondern bei dem ansonsten kaum Schüler aufnehmenden Tiepolo. Dort studierte Kuen wahrscheinlich nicht nur die Werke seines Meisters, sondern beteiligte sich auch an der Umsetzung[9] und kopierte Werke konkurrierender Künstler. Franz Martin Kuen blieb circa ein Jahr in Venedig und kehrte 1747 nach Weißenhorn zurück. In seinem Gepäck befand sich ein wahrer Reichtum unterschiedlichster Vorlagen, die ihn zu dem maßgeblichen Vermittler tiepolesker Bildlösungen, Figurenerfindungen und Gestaltungsweisen auf dem Gebiet Süddeutschlands machen sollten. Nicht Tiepolo selbst, der ein Jahr später seinem Schüler in den Norden folgte, um den Auftrag zur Ausmalung der fürstbischöflichen Residenz in Würzburg zu erfüllen, sondern Kuen mit seiner Arbeit an allgemein zugänglichen Orten und mit seiner Werkstatt wurde zum maßgeblichen Träger eines Kulturtransfers, der keineswegs nur in eine Richtung im Sinne eines Top-down-Modells floss. Vielmehr knüpfte Kuen in der Folgezeit an einheimische Strömungen an und verlieh seinem im „hochkulturellen Sektor“ Erlernten, Erprobten und Gesehenen[10] die in der Volkskunst so notwendige „Unbeschwertheit des Gestaltens und Erzählens wie auch Frische und Lebendigkeit“[11]. Anders als 1741 kehrte er 1747 nicht in die väterliche Werkstatt zurück, sondern eröffnete eine eigene, heiratete die Weißenhorner Kaufmannstochter Maria Anna Würth und nahm seinen ersten Lehrling, den Weißenhorner Andreas Thalweiner, auf.[12] Kuens Tätigkeit in Weißenhorn trug maßgeblich dazu bei, dass die Residenzstadt der Fugger Kirchberg-Weißenhorn zum führenden Kunststandort im ländlichen Raum aufstieg.[13] Hiervon wurde auch Johann Baptist Enderle 1750 angezogen, indem er seine Ausbildung bei Kuen vollendete[14] und wie dieser unmittelbarer Rezipient und Vermittler adaptierter Vorbilder wurde. Letztlich betrieb Kuen in Weißenhorn bis zu seinem Tod 1771 eine erfolgreiche Werkstatt, die von seinem ältesten Sohn Michael Herrmann „in Compagnie“ mit seinem Stiefvater (Konrad Huber) fortgesetzt wurde.[15] Kuens reicher Kunstbesitz an „Mahlereyen, Kupferstich, und was dahin einschlagt“ verblieb bei Kuens leiblichen Kindern.[16]
[1] Vgl. AK Weißenhorn Tiepolo 1992, 167.
[2] Vgl. Tacke Herbst des Barock 1998, A. 48.
[3] Der um zehn Jahre ältere Bruder hat nach Studien in Ulm, Augsburg und Dillingen 1727 das Gelübde bei den Wengener Augustiner-Chorherren in Ulm abgelegt.
[4] Aus einem Brief von Pater Franz Joseph CRSA an Joseph Anton von Zwerger vom 9. September 1748, zitiert nach: AK Weißenhorn Tiepolo 1992, 16. Für das vollständige Zitat siehe auch Anm. 1142 in der vorliegenden Arbeit.
[5] Franz Martin Kuens Gesellenschaft bei Bergmüller ist nicht belegt, allerdings gängige Forschungsmeinung. Vgl. AK Weißenhorn Tiepolo 1992, 15; AK Türkheim Bergmüller 1988, 110f.; Epple/Straßer Bergmüller 2012, 44.
[6] Während die Ulmer Ausmalung, wo er zunächst nur das Langhaus und dann 1766 den Chor vollendete, 1944 einem Bombenangriff zum Opfer fiel, zählen die Wiblinger Fresken heute zu den Meisterwerken süddeutscher Freskomalerei. Als Vorbild für die Bildanlage sowie für Einzelszenen wie die Waldlandschaft mit der Szene des Sündenfalls diente Kuen das Langhausfresko von Johann Baptist Zimmermann in der Wallfahrtskirche zu Steinhausen. Dies verbindet er mit fantasievollen Rocailleelementen aus den Stichen Johann Evangelist Holzers. Vgl. AK Weißenhorn Tiepolo 1992, 27 Anm. 25.
[7] AK Weißenhorn Tiepolo 1992, 19.
[8] Ebd.
[9] Siehe Anm. 10.
[10] Man denke nur an seine Aufträge für die Wengener Augustiner-Chorherren oder die Wiblinger Benediktiner. Auch Tiepolo schuf 1746/47 die Fresken im Palazzo Labia in Venedig. Eine Mitarbeit Kuens ist zwar nicht gesichert, aber unter Berücksichtigung der damals üblichen Werkstattgepflogenheiten anzunehmen. Vgl. AK Weißenhorn Tiepolo 1992, 20.
[11] Ebd., 24.
[12] Der im Weißenhorner Stadtarchiv aufbewahrte Lehrvertrag ist einer von zwei erhaltenen Verträgen. Weder zu seinem berühmten Schüler Johann Baptist Enderle noch zu Konrad Huber existieren entsprechende Unterlagen. Vgl. ebd., 24.
[13] Vgl. Eberle Weißenhorner Maler 1930, o. S.
[14] Enderle, der 1725 22 Kilometer von Weißenhorn entfernt, in Söflingen bei Ulm, geboren worden war, erhielt seine erste Ausbildung vermutlich innerhalb der Familie, nämlich bei seinem Günzburger Onkel Anton Enderle. Anfang der 1740er-Jahre zog er – so die einhellige Forschungsmeinung – nach Augsburg, um nicht nur die Augsburger Kunstakademie zu besuchen, sondern um dort die wichtigsten Maler der Zeit zu treffen. Die Annahme stützt sich auf die augenscheinliche Nähe von Enderles Zeichenstil zu dem der Augsburger Schule, insbesondere zum Stil ihres Direktors Bergmüller. Dasser schlägt aufgrund von Enderles „starke[r] Vorliebe für G. B. Göz-Stiche“ vor, dass er unter Umständen „sogar für einige Zeit in Arbeit bei Gottfried Bernhard Göz“ (Dasser Enderle 1970, 77) gestanden habe. Gesichert ist, dass Enderle Ende der 1740er-Jahre zu Kuen wechselte und als Mitarbeiter in dessen Weißenhorner Werkstatt unter anderem an der Ausstattung der Pfarrkirche zu Mindelzell 1750/51 beteiligt war. Wie oder wann Enderle, der 1747, wie ein Streit mit dem Malerkollegen Anton Walser belegt, noch in Söflingen wohnhaft war, bei Kuen, der im selben Jahr aus Italien zurückgekehrt war, anfing, ist ungewiss. Enderles erste Werke – zwei Altarblätter – sind für die Jahre 1746/47 belegt. Diese führte er für die Kirchen in Klingenstein und Unterkirchberg, zwei Orte in der unmittelbaren Nähe von Söflingen, aus. Vgl. Dasser Enderle 1970, 8, 11, 17f.; AK Türk-heim Bergmüller 1988, 116; AK Donauwörth Enderle 1998, 18f.
[15] Insgesamt hatte Kuen 16 Kinder, die zwischen 1749 und 1767 geboren wurden. Allerdings werden im Heiratsvertrag 1773 nur vier lebende Kinder genannt. Folglich verstarben wohl die meisten im Kindesalter. Vgl. AK Weißenhorn Tiepolo 1992, 30 Anm. 75.
[16] Vgl. ebd., 25.
Komplettes Verzeichnis der in der Dissertation verwendeten Literatur findet sich in der Datenbank unter Bibliografie > Dissertation.
Zuletzt aktualisiert am: 13.06.2016