Scheer (Sigmaringen), St. Nikolaus [Langhausfresken] Zitieren
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Über vier Joche erstreckt sich das Mittelschiff, an dessen Wänden sich die Repräsentanten der Völker der vier Kontinente versammeln. An der Decke des Mittelschiffs und am Chorbogen waren bis zum Erdbeben 1935 die Verherrlichung der Eucharistie und der Triumph der Kirche über die Reformation dargestellt, auf Letzteres verwies den Betrachter auch eine Inschriftenkartusche am Chorbogen mit einem Teilzitat aus Mt 16,18 „et portae inferi non praevalebunt adversus eam“[1]. Einzig übrig geblieben von der ursprünglichen Ausstattung sind die Hochschiffwände mit den vier Erdteilen, wobei diese unter den Restaurierung der letzten zwei Jahrhunderten stark gelitten haben (s. Befund).
Im östlichen Teil des Mittelschiffs befindet sich an der nördlichen Wand Europa, dann im Uhrzeigersinn sich drehend ihr gegenüber Asia, dann Afrika und schließlich im westlichen Teil der Nordwand Amerika.[2] Das Hauptgliederungselement stellt eine mit zwei roten[3] Teppichen geschmückten Scheinbalustrade dar, die sich an den beiden gesamten Schiffswänden entlang in einem konkav-konvex geschwungenen Wechselspiel erstreckt und jeweils in der Mitte der vier Seitenschiffarkaden von Postamenten durchbrochen ist. Hinter der Balustrade setzt sich die Scheinarchitketur in Form von vier Arkaden, die in ihrer Spannweite jeweils einem Joch entsprechen, fort. Während die beiden mittleren Arkaden durch einen Ausblick auf Landschaft mit Bergen und Palmen den Raum illusionistisch erweitern, begrenzen die äußeren Bögen diesen durch eine gemalte Kuppel. Am östlichsten Ende der Scheinarchitektur zum Chor suggeriert eine gemalte Tür eine Fortsetzung im Chorbereich. Die einzelnen Repräsentanten der Erdteile treten in einer mehrfigurigen Komposition auf und beschränken sich auf die zweite und dritte Arkade. Die Protagonisten der Erdteilgruppe stehen jeweils zwischen den Durchbrüchen in der Scheinbalustrade.
Die weibliche Personifikation der Europa präsentiert sich in Dreiviertelansicht in einem bodenlangen weißem Gewand und einem purpur farbigen Mantel. Ihr Haar trägt sie in antiker Manier in einem gewellten Knoten hochgesteckt und mit Perlenschnüren und einem kleinen kreuzgekrönten Diadem verziert. Sie befindet sich am äußersten rechten Rand der Europa-Gruppe. Ihr Gefolge, bestehend aus jungen Frauen, römischen Legionären und Feldherren mit ihren Symbolen – die Aquila und eine Standarte mit dem römischen Akronym „S.P.Q.R.“ – kniet und steht links von ihr.
An die Gruppe um Europa schließt sich direkt die Gruppe um Amerika an. Die weibliche Personifikation Amerika, die ein bläulich schimmerndes Gewand mit silbernem Diadem, Perlenkette und Perlenohrringen trägt, ist anders als ihr Gefolge von blassem Teint. Zu ihrer linken Hand steht ein Krieger, der in seiner Kleidung (Kalottenhelm mit der lamettenartigen Helmbrünne und Schild[4]) an einen mongolischen Krieger aus der Zeit der Goldenen Horde oder auch an einen osmanischen Krieger (Turbanhelm mit Helmbrünne und das typische spitz zulaufende Schild[5]) erinnert[6]. Zu Füßen der beiden spielen zwischen den mit Löwen bekrönten Postamenten zwei nackte, dunkelhäutige Kinder miteinander, ein Adler sitzt auf dem linken Bein eines der Kinder. Rechts von Europa schließen sich vier Figuren an, die sich durch ihre schwarze Hautfarbe von den anderen Figuren abheben. Einer der Figuren steht mit entblößtem Oberkörper auf einem der Postamente; eine zweite trägt eine Federkrone; eine dritte stützt sich mit einer Hand auf das Geländer der Balustrade, mit der anderen umfasst sie einen Speer.
An der Südwand des Mitteschiffs befinden sich Asia und Afrika. Anders als bei Europa und Amerika lässt sich die Unterscheidung zwischen Protagonist und Gefolge nur schwerlich treffen. Vorne rechts zwischen den beiden Postamenten, geschmückt mit zwei weiblichen, geflügelten Fabelwesen, schaut eine Gruppe von Frauen zur Decke empor. Eine Frau (Asia?) mit goldenem Haar und kostbarem Kopfschmuck, ganz in Weiß gehüllt, hält ein ebenfalls gold gelocktes Kind in ihrem Arm. Das Kind neigt seinen Kopf zu einem anderen nackten dunkelhaarigen Kind, das genau im Balustradendurchbruch steht. Die Komposition erinnert an Darstellung von Maria mit Kind und Johannesknaben. Ein roter Sonnenschirm trennt die rein weibliche Gruppe von einer gemischten Gruppe, die von zwei männlichen Figuren dominiert wird. Ihre ausfallende Gestik und bärtige Physiognomie heben sie hervor. Während der aufgrund seines weißen Bartes scheinbar Ältere der beiden, in Grün und Gelb gekleidet, der „Asia?“-Gruppe einen rot-weißen Turban entgegenstreckt, wendet sich der andere der Gruppe Afrika zu. Sein schwarzer Bart harmoniert mit seinem purpur farbigen Mantel und ins Gelbrot tendierende Kaftan, der mit Goldschnallen und einem Gürtel verziert ist. Links von seiner Hüfte sieht man den Griff eines Säbels (?). Mit seiner rechten Hand hält er einen federgeschmückten Turban hoch.
Direkt neben ihm, quasi am Ende des konkaven Einschwungs des Geländers kurz vor dem Durchbruch, eröffnet eine in Frontalsicht zur Hälfte wiedergegebene Figur das Geschehen der Afrika-Gruppe. Diese ist als solches durch ihre einheitlichen negroiden Gesichtszüge und schwarze Hautfarbe zu erkennen. Die „Eröffnungsfigur“ präsentiert sich reich geschmückt mit einer mehrreihigen Kette, Perlenohringen, einem mit einer Brosche und Federn verzierten weißen Turban und in einem hellgrünen Gewand. Hinter ihr ist der Kopf einer weiteren Figur zu erkennen. Die Postamentfigur, ein fauchender Drache, leitet zur Mittelgruppe über, in der sich die Mutter-Kind-Kind Kombination aus der Asia-Gruppe auch prominent wiederholt, und in der besonders eine Figur durch ihre emotional sehr ausdruckstarke Gestik und Mimik ins Auge sticht. Das Geschehen wird schließlich durch zwei Personen am Ansatz der konvexen Ausbuchtung des Geländers schräg hinter dem zweitem Postament beendet. Die vordere Person trägt eine perückenartige rote Federkrone und einen langen Speer. Sie nimmt als einzige direkt mit dem Gläubigen Blickkontakt auf. Hinter der Figur erkennt man noch ein Drittel eines Bogens. Die hintere Person präsentiert sich von der Seite. Sie schaut über ihren Rücken zurück auf die Mittelgruppe. Ein blauer Vogel links von ihr beschließt die Szene.
Die romanische Flächigkeit des Langhauses bot den verantwortlichen Künstlern eine Bühne des Illusionismus, auf der die Grenzen zwischen „Wirklichkeit und Unwirklichkeit“ [7] verschwinden. Eindrucksvoll sprengt Esperlin die architektonische Enge des Langhauses durch die Scheinbalustrade und die dahinter liegenden Landschaftsausblicke. Die immer anwesenden Repräsentanten der vier Erdteile vermitteln weniger ein Gefühl der Einsamkeit, sondern der Lebendigkeit. Nicht der einzelne Gläubige, sondern die Gemeinschaft der Gläubigen steht im Vordergrund, von der der Eintretende wesentlicher Bestandteil wird. Bei Gottesdienste mit Choreinlagen gesellen sich reale Menschen nicht nur im Kirchenschiff zu den gemalten Erdteilgruppen, sondern vor allem auf der Orgelempore, deren reale Balustrade eine direkte Verlängerung der Scheinbalustrade darstellt.[8] Prägnant verdeutlicht Angela Pudelko dieses Gemeinschaftsgefühl zusammen:
„In einer dreifachen Abstufung ist das Thema des Mittelschiffs behandelt: das Sehnen der Völker nach der Erlösung an den Wänden des Langhauses steigert sich zum Sieg der Kirche über ihre Widersacher über dem Triumphbogen, wird auf der Decke von den anbetenden Heiligen und Seligen fortgeführt und von der hl. Dreifaltigkeit gekrönt.“[9]
Eine weitere Funktion der Hochschiffwände hat Cornelia Andrea Harrer eingebracht, als sie feststellte: „Für den Einbau einer Galerie war kein Platz, also ließ man eine malen.“[10] Die Bedeutung einer Galerie lag darin, dass von hier oder von einer Loge stets die Herrschaft am Gottesdienst teilnahm. Durch die Einbindung einer gemalten Galerie soll der Status der Scheerer Kirche als Herrschaftskirche hervorgehoben werden.[11]
Vergleichbare Kompositionen von Erdteildarstellungen verwendeten bereits im profanen Raum Ende des 17. Jahrhunderts Carpoforo Tencalla (1623–1685) im Festsaal des Schlosses Abensberg-Traun im niederösterreichischen Petronell und 1706 in einem Sakralbau Johann Michael Rottmayr (1654–1730) in der Jesuitenkirche St. Matthias in schlesischen Wrocław.
[1] Zitiert nach Pudelko 1938, 23. Das gesamte Zitat heißt: „et ego dico tibi quia tu es Petrus et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam et portae inferi non praevalebunt adversum eam“ (dt.: „Ich aber sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.“. Heute steht dort ein Teilzitat aus Mt 26,26: „[„cenantibus autem eis accepit Iesus panem et benedixit ac fregit deditque discipulis suis et ait accipite et comedite“] Hoc est corpus meum“ (dt.: „Während des Mahls nahm Jesus das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es den Jüngern und sagte: Nehmt und esst; das ist mein Leib“) in der Inschriftenkartusche, als Verweis auf das Thema des übergeordneten Deckengemäldes. Vgl. Vulgata Freiburg und Bibel Innsbruck.
[2] Nach Bleicher wird an den Hochschiffwänden die streitende Kirche dargestellt, und er vertauscht Afrika und Amerika. Vlg. Bleicher 1986, 199.
[3] 1938 war einer der Teppiche grün. Vgl. Pudelko 1938, 23.
[4] Vgl. Robinson 1967, S. 28, Fig. 15 und S. 33, Fig. 17 E
[5] Vgl. Robinson 1967, Plate X D und Plate XII A.
[6] Das Bildnis des Mongolen seit dem 17. Jahrhundert hat sich ähnlich der Vorstellung über einen Indianer mit den Adjektiven „frei, edel, wild (im naturpositivistischen Sinne)“ verbunden. Vgl. Kollmar-Paulenz 2003, 259f. und 263f.
[7] Sauer 1934, 218; vgl. Pudelko 1938, 26.
[8] Sauer 1934, 201–255: 218.
[9] Pudelko 1938, 25.
[10] Harrer 1991995, 401.
[11] Vgl. Engelberg 2005, 612.
Von West nach Ost:
LANGHAUS:
- Mittelbild: die von Christus gestiftete Kirche (ursprüngliches Thema)
- Hochschiffwände: die vier Erdteile
Seitenschiffe: Kreuzwegstationen
- Mittelbild: die Erlösung durch die Menschwerdung Christi
- Seitenbilder: vier Darstellungen des würdigen und unwürdigen Empfang der heiligen Kommunion
Die Fresken an den Langhauswänden haben eine wechselhafte Geschichte durchlebt und sind nur noch zum Teil original. Während der ersten Gesamtrenovierung, durchgeführt 1872 bis 1875 von Eduard Mayer (1831–1897) aus Wiesensteig, wurden sie 1874 zum Teil stark verändert.[1] Mayer hat besonders in die Scheinarchitektur an den Hochschiffwänden eingegriffen.[2] 1908 wurden drei große Risse im hinteren Teil des Langhausfreskos entdeckt, und neben der Verstärkung des Dachstuhls war auch eine Ausbesserung des Freskos durch Jakob Baur (1891–1932) aus Mengen notwendig geworden. Durch das Erdbeben vom 27. Juni 1935 so schwer mitgenommen, wurde die Langhausdecke mit dem Fresko unter Leitung des Landesdenkmalamtes abgerissen. In der online frei zugänglichen Marburger Bilddatenbank Bildindex für Kunst und Architektur (http://www.bildindex.de) gibt es noch alte Aufnahmen kurz nach dem Erdbeben (LAD Baden-Württemberg, Stuttgart, Microfiche-Scan mi08926j07 und mi08926i05), und es findet sich ebenfalls eine ausführliche Beschreibung eines unbekannten Autors aus dem 19. Jahrhundert im Pfarrarchiv.[3] Während ein Restauratorenteam (Maler: Max Hammer, 1884–1973, aus Ulm; Anton Baur, 1880–1961, aus Biberach; Stuckateur: Anton Bahnmüller, 1887–1966, aus Saulgau) die beschädigte Ausstattung restaurierte, malten 1937 August Braun (1876–1956) und sein Neffe Josef Braun (1903–1965) aus Wangen im Allgäu an der Langhausdecke ein neues Bild: im hinteren Teil einen Gnadenstuhl und im vorderen Hauptteil das Reichen des Abendmahls an den heiligen Johannes Evangelista durch Jesus, umgeben von den bedeutendsten Ordensstiftern. In den Stichkappen brachten sie unter anderem Darstellungen von Propheten, Märtyrern, Evangelisten, Kirchenvätern und weiteren Heiligen an. Bis in die 1990er-Jahre wurde die Kirche nur Anfang der 1970er-Jahre (1969–1973) von außen renoviert wurden. Von 1992 bis 1996 wurde das Innere von den Sigmaringer Firmen Buff und Schulz-Lorch sowie der in Unterwalhausen ansässigen Firma Ehninger gereinigt.[4]
[1] Vgl. Keppler 1888, 310 (der mit 1847 als Restaurationsjahr einen Zahlendreher hat); Kgr. Württemberg 1907, 469; Hoffmann 1932, KDV Saulgau 1938, 126.
[2] Vgl. Pudelko 1938, 23.
[3] Hierauf bezieht sich auch Angela Pudelka in ihrer Beschreibung der Fresken in ihrer Dissertation von 1938, 23–25.
[4] Vgl. besonders Pudelko 1938, 23, 25; Bleicher 1986, 213–215, 219; Beck 1997, 8f.
1747/48. Joseph Esperlin hat an verschiedenen Stellen in der Kirche seine Werke signiert und datiert. Datierungen sind meist als terminus ante quem zu verstehen. Demzufolge hat er 1747 die Decke im Mittelschiff vollendet.[1] Den nächsten Hinweis auf seinen Arbeitsprozess gibt uns eine Signatur in der siebten Station des Kreuzweges im rechten Seitenschiff „Jos Esperlin invenit 1750“[2]. Wobei hier Angela Pudelko aufgrund des fehlenden „pinxit“ die Hand von Schülern vermutet.[3] Mit dem Jahr 1752 hat er dann beide Supraportenbilder[4] sowie das Ovalbild des dem heiligen Joseph geweihten Altars im rechten Seitenschiff[5] fertiggestellt. Die Vermutung liegt nahe, dass Esperlin direkt im Anschluss an die Fertigstellung der Decke die Wände des Mittelschiffs gemalt hat. Hieraus folgt eine mögliche Datierung der Erdteile mit 1747/1748.
[1] Die Signatur und Datierung ist heute verloren, jedoch Pudelko 1938 (23) gibt sie wieder als Joseph Esperlin invenit et pinxit anno Domini 1747.
[2] Hier gibt Pudelko fälschlicherweise wieder Joseph Esperlin invenit 1750, vgl. Pudelko 1938, 26.
[3] Vgl. Pudelko 1938, 26.
[4] Hier finden sich folgende Signaturen: Supraportenbild „Geburt Mariae“ im linken Seitenschiff: Jos Esperlin invenit & pinxit 1752 und Supraportenbild „Darstellung im Tempel“ im rechten Seitenschiff: 1752.
[5] Dies wurde mit Joseph Esperlin invenit et pinxit año 1752 signiert und datiert.
Zuletzt aktualisiert am: 27.02.2016